Kiimuh war auf dem Weg nach Hiiderüh. Sein Weg führte ihn durch unberührte Wildnis in tagwärtiger Richtung. Immer wieder musste er seine Machete benutzen, um sich seinen Weg durch den undurchdringlichen Wald freizuschneiden. Die Bäume und Ranken waren verwachsen wie zwei Monate ungewaschenes Haar. Dazu der schwere Geruch der blühenden Pflanzen und das immer gleichmäßige Summen der Insekten.
Die Luft war feucht und der Boden durch den endlosen Regen aufgeweicht. Das hatte er auch erwartet, denn tagwärtige Hände waren immer sehr feucht. Doch hier war es schlimmer als üblich. Bei jedem Schritt versucht der feuchte Waldboden wie ein hungriger Raukos ihm die Stiefel von den Füßen zu saugen.
„Bei Duher und Ragbah!“ fluchte Kiimuh, als ihm mal wieder eine dornige Ranke am Hosenbein zerrte. „Wie soll in dieser Wildnis jemals ein vernünftiger Weg entstehen?“ Nicht zum ersten Mal schimpfte er über seine Aufgabe, einen Weg nach Hiiderüh zu finden und eine gangbare Verbindung zu schaffen. Er musste einerseits die Richtung beibehalten und andererseits Stellen ausweichen, die nicht gangbar waren. Der Fluss, auf den er am zweiten Tag gestoßen war, war so ein Hindernis, das ihm laut gluckernd den Weg versperrte. Auf den Satellitenkarte, die er von seiner Insel hatte und die schon hunderte Jahre alt war, war der Fluss nicht zu sehen gewesen. Der Karte nach war die ganze östliche Seite der Insel ohne größere Flüsse, doch wie sie bereits kurz nach der ersten Besiedelung der Insel feststellen mussten, was da falsch wie blaue Schafswolle.
Als er das Rauschen hörte, das immer lauter wurde und die Luft noch feuchter als sonst wurde, hatte er schon geahnt, dass er sich einem Fluss näherte. Fünf lange Stunden hatte er gebraucht, um eine Stelle zu finden, an der er mit Mühe den Fluss überqueren konnte.
Später war er dann auf die Klippen gestoßen, die waren auch so ein Problem gewesen. Eben noch war er mitten im Wald, umgeben von feuchter Luft und nassem Regen. Doch dann, als er einen der widerspenstigen Äste zur Seite schob, stand er plötzlich vor einem Nichts und der Wind wehte ihm frisch um die Nase, gepaart mit kräftigem Regen.
Von einem Moment zum anderen hatte sich so seine Umgebung völlig verändert. Der Regen war frischer und die Luft roch irgendwie leicht nach Meer. Er hatte Fast das Gefühl, Salz auf der Zunge zu schmecken. Durch die Wolken und den Regen konnte er das Meer nicht sehen, aber es war trotzdem nicht weit entfernt, das war ihm klar.
Es war nicht sehr weit bis zum anderen Ende der Schlucht, höchstens einen Kilometer, aber nach den Tagen im Wald musste er trotzdem blinzeln, um sich an die ungewohnte Weiter zu gewöhnen. Vielleicht hatte es auch an der plötzlichen Helligkeit gelegen, die nach dem Dunkel des Waldes fast blendend war.
Als er jetzt darüber nachdachte, fragte er sich, wie es wohl den Leuten von der Tagseite erging. Ihre Augen waren sicherlich an sehr viel mehr Licht gewöhnt. Er hatte gehört, dass Alpha und Beta zusammen nur ein Tausendstel so hell waren wie Gamma. Trotzdem musste sich doch die meiste Zeit von der Helligkeit geblendet sein, wenn Gamma tausendmal heller war.
Es hatte mehrere Stunden gedauert, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, die Klippen zu überwinden. Bis er soweit war, war er von Regen und Wind völlig durchnässt und am Frieren. Bei Abstieg hatten sich immer wieder steine in seine Hände gebohrt, als er so vorsichtig wie möglich hinab geklettert war. Wenn er sich hier ernsthaft verletzte, dann war es sein Ende, das war ihm klar.
Er wäre nicht der erste, der von einer Wegbahnung nicht zurückkehrte, aber von dieser Gefahr wusste man vorher. Als Ausgleich wurde man gut bezahlt und kam weit herum. Das Wichtigste für ihn war jedoch die Ruhe, die er unterwegs hatte. Wenn ihm nach Menschen war, dann blieb er länger in einem der Orte, aber am Ende war er immer wieder froh, wenn er abreisen konnte. Die Gerüche des Waldes waren dem Gestank von Dörfern oder gar Städten definitiv vorzuziehen. Es war faszinierend, wie weit sich der Gestank großer Siedlungen in den Wäldern der Insel ausbreitete. Wenn er aus nachtwärtiger Richtung kam, konnte er schon Stunden vorher riechen, dass er sich seinem Ziel näherte.
Die meisten Menschen merkten nicht, welchen Geruch ihre Zivilisation in ihrer Umgebung ausbreitete, da sie nur selten die Nähe ihre Orte oder bereits gebahnter Wege verließen. Wenn sie dann doch mal weiter entfernt waren, dachten sie immer, die Abwesenheit des Gestanks der Ort wäre der Geruch des Waldes, aber dem war so nicht.
Außerdem mochten die meisten Menschen den Waldboden nicht. Je mehr ein Weg benutzt wurde, desto mehr wurde er befestigt und der unberührte Wald wich Stück für Stück der Zivilisation.
Manchmal machte es Kiimuh traurig, dass dem so war, aber zum Glück gab er noch genug unberührte Wildnis, so dass auch seine Nachfahren noch Wegbahner sein konnte, wenn sie es wollten.